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ALLRIS - Auszug

06.09.2012 - 3.1 Bericht über einen kritischen Jugendhilfefall

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Wortprotokoll

Herr Dr. Hoffmann erläutert dem Ausschuss, dass 20 – 30 Familien im Kreis Segeberg ohne Norderstedt, die Beratung oder Unterstützung durch ambulante Hilfe erfahren. In diesen Familien sei die Lage so prekär, dass sich ständig die Frage nach einer Kindeswohlgefährdung stelle. Einer dieser Fälle sei durch einen Polizeieinsatz, der in der Presse berichtet wurde, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Er gebe Anlass über die Arbeit des Jugendamtes zu berichten. Er erklärt, dass er nicht berechtigt sei, personenbezogene Fakten zu entschlüsseln. Dennoch sei ein Bericht möglich, der dem Ausschuss darstelle, wie das Jugendamt in einem solchen Fall arbeite und auch, was es künftig mit entsprechendem Aufwand besser bzw. anders machen könnte.

 

Unterschieden werden müsse zwischen einer „latenten“ Kindeswohlgefährdung und einer „akuten“ Kindeswohlgefährdung. Im ersten Fall sei ein ständiger, helfender und zugleich beobachtender Kontakt notwendig, im zweiten die Herausnahme betroffener Kinder aus der Familie. Bei dieser Gradwanderung begegne der Mitarbeiterschaft oft der Wille der Eltern, ihre Kinder selbst zu erziehen; aber in der Praxis zeichne sich eine zumindest teilweise Unfähigkeit hierzu ab, oder aber eine psychische und physische Überforderung bei durchaus richtig gesetzten eigenen Erziehungszielen. Wichtige Leitlinien seien dann die familiengerichtlichen Entscheidungen, die sich stets an der Frage der von dort eingeschätzten Erziehungsfähigkeit der Eltern orientieren. So wäre es auch in dem diesem Bericht auslösenden Fall. Einleitend sei hier eine Meldung des Jugendamtes über eine mögliche Kindeswohlgefährdung an das Familiengericht. Das Familiengericht höre die Eltern an und treffe gegebenenfalls Entscheidungen über das Sorgerecht. Es bestehe ein Dreiecksverhältnis zwischen der Familie, dem Jugendamt und dem Familiengericht. Diese Situation erfordere komplizierte Perspektivenwechsel und aufwändiges Arbeiten, sowie Dokumentieren.

 

In dem vorliegenden Fall spiele jedoch noch ein weiteres schwieriges Einflussfeld mit. Die Eltern hätten das Jugendamt eher als Kontrolleur, denn als Helfer empfunden, obwohl zwei Familienhelfer eines freien Trägers eingesetzt wurden. Die Eltern wären immer wieder der Meinung gewesen, bei einer erheblichen emotionalen Bindung an ihre Kinder, sie könnten die Erziehung allein schaffen. Das Jugendamt, aber auch die Mitarbeiter des Familienhilfedienstes, seien zeitweise wie Eindringlinge empfunden und abgewehrt worden. In solchen Fällen wäre der Übergang von der „latenten“ zur „akuten“ Kindeswohlgefährdung nicht weit weg. Es bedürfe also kurz getakteter Kontrollgespräche neben den klassischen Hilfeplangesprächen in großer Runde. Alle diese Abstimmungen hätten stattgefunden und seien aus den Akten ersichtlich.

 

Es habe immer wieder Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit gegeben. Aber eine Toleranzgrenze wäre nie überschritten worden: Es habe immer die Möglichkeit gegeben, die Kinder zu sehen. So hieße es in einer Zusammenfassung vom 09.05.2012: „Die Kinder werden gesehen, sie sehen „gut aus“ und es ist Nahrung vorhanden.“ Die Abstimmung am 09.05.2012 habe im Übrigen der Einschätzung der längeren Schulabstinenz eines Kindes gedient. Er ergänzt, dass eine Schulabstinenz an sich, ohne weitere das Kind bedrohende Fakten, nicht als akute Kindeswohlgefährdung gilt, auch wenn von Seiten der Schulen dies gelegentlich anders beurteilt wird. In diesem Fall wäre es jedoch so gewesen, dass die Schulabstinenz recht lange dauerte und eine flankierende Hilfe über ein spezielles Programm von JobA nicht fruchtete. Eine Besprechung mit dem Team einschließlich der schulischen Lehrkräfte, die das Jugendamt erheblich kritisierten, habe am 13.06.2012 vormittags stattgefunden. Ergebnis wäre gewesen, nunmehr die Herausnahme des betroffenen Kindes vorzubereiten. Am gleichen Tag mittags wäre dann ein Geschwisterkind in inadäquater Weise untergebracht, von der Polizei vorgefunden worden, worüber die Presse berichtet hätte. Dabei hätte der Einsatz der Polizei mit einem Kindeswohlgefährdungsverdacht nichts zu tun.

 

Seit dem 03.07.2012 gebe es nun eine umfassende Sorgerechtsentscheidung für alle sechs Kinder mit der Bestellung und Beauftragung der Amtsvormundschaft in dieser Funktion. Die sechs Kinder befänden sich zurzeit jeweils zu zweit in nahe beieinander gelegenen Heimeinrichtungen, bei fußläufiger Erreichbarkeit untereinander. Eine Untersuchung durch Fachärzte habe keine Schäden oder körperlichen Beeinträchtigungen bei den Kindern ergeben.

 

Bei dem Einsatz vor Ort am 13.06.2012 wäre von den drei Kindern nur eines ortsanwesend gewesen. Dies sei dort in Obhut genommen worden. Außerhalb seien später die beiden anderen Kinder, das eine gegen erheblichen eigenen Widerstand, in Obhut genommen worden. Kurzfristig danach habe das Familiengericht die elterliche Sorge den Eltern vollständig entzogen und auf das Jugendamt übertragen. Der in den Presseberichten erwähnte Kellerraum gehöre nicht zur Mietwohnung, hätte aber von ihr aus betreten werden können. Er wäre den beiden eingesetzten Familienhelfern oder Mitarbeitern des Jugendamtes nicht bekannt gewesen. Die Wohnung sei eher sauber gewesen und der Begriff der Verwahrlosung treffe keinesfalls zu. Die Stundeneinsätze der Familienhelfer vor Ort hätten nach dem jeweils kurzfristig eingeschätzten Bedarf geschwankt, wären aber relativ gleichmäßig über die Wochentage der Monate verteilt gewesen. Auch der Rückmeldekontakt zum Jugendamt sei kontinuierlich verlaufen.

 

Weiterhin berichtet er über eine kritische Nachbearbeitung im Hause. Es habe eine Pressenotiz mit der Aussage gegeben, dass Fehler im Jugendamt nicht gesehen wurden. Dennoch prüfe das Jugendamt, wie solchen Fallentwicklungen vorgebeugt bzw. rechtzeitiger begegnet werden könne. Es gebe ein Bundesprogramm mit dem Titel „Aus Fehlern lernen“, dass nach den spektakulär in der bundesweiten Öffentlichkeit berichteten Fällen entwickelt worden sei; das darin enthaltene Konzept beschreibe eine gewisse Methodik der Fallaufbearbeitung im Nachherein mit dem Ziel, für zukünftiges Handeln zu lernen. Dabei sei der Titel wenig glücklich. Gemeint sei: Wie können wir in unserer Arbeitsweise besser werden?

 

Er sehe für das Jugendamt des Kreises Segeberg folgende Konsequenzen:

 

      Die Dienstanweisung Kinderschutz solle unter die Lupe genommen werden und auch anhand des neuen Bundeskinderschutzgesetzes geschärft werden.

 

      Langzeitfälle ambulanter Hilfen sollten intensiver analysiert werden; dazu bedürfe es ausreichend und entsprechend erfahrenes Personal.

 

      Es solle versucht werden in der Person der Eltern liegende Beeinträchtigungen, fachlich besser zu erfassen. Es solle den Ursachen bestimmter Verhaltensweisen nachgegangen werden, wie z. B.: Nicht-Loslassenkönnen des eigenen Kindes, Nicht-Formulieren-Können oder Nicht-Formulieren-Wollen eines Hilfebedarfes, Nicht-Annehmen-Können eines von dritter Seite (z. B. Familienhebamme, Allgemeiner Sozialdienst, Familienhelfer) erkannten Hilfebedarfes. Auch dieser Ansatz sei erheblich personalaufwändig.

 

Weiterhin appelliert er an die Hilfe der Politik und Presse, um zu vermitteln, dass fast nie Kinder aus einer Familie herausgenommen müssten, wenn die Eltern von sich aus Hilfebedarf signalisieren. Dann sei regelmäßig davon auszugehen, dass eine - gegebenenfalls teilweise - Erziehungsunfähigkeit vorliege, in der Unterstützung geleistet werden könne, um die Situation aufzubauen. Misslich seien die Konstellationen, in denen aus Vorerfahrungen, womöglich am eigenen Leib in der eigenen Kindheit, oder aus Befürchtungen, eine Schwäche preis zu geben, die Kooperation mit dem Jugendamt nicht oder nicht rechtzeitig gelinge oder sogar verweigert werden würde. Gesellschaftlich würden wir uns noch immer in einem Umdenkungsprozess von dem Grundsatz befinden, Erziehung sei etwas, was jeder durch sein eigenes Leben gelernt habe und wie von selbst beherrschen müsse, hin zu der Erkenntnis, dass es eine schwierige Aufgabe sei, bei der Entgegennehmen von Unterstützung alles andere als blamabel, sondern eher das Zeichen einer gewissen eigenen Souveränität ist.

 

Herr Wulf erkundigt sich im Anschluss, ob für die Zukunft sichergestellt ist, dass eine ausreichende Distanz zu den Familien besteht und eine „Kumpelei“ ausgeschlossen werden kann. Weiterhin fragt er nach, ob ein aktives Informationsnetz mit Erkenntnisgewinnung und                –auswertung vorhanden sei. Herr Dr. Hoffmann erwidert, dass kein freier Träger so abhängig ist, dass er eine falsche Berichterstattung nötig hätte. Weiterhin wäre eine falsche Berichterstattung ein Ausschlusskriterium und würde von dem engmaschigen Hilfesystem erkannt werden. Für die inneren Abläufe zum Informationsaustausch gebe es Handlungspläne. Diese könnten jedoch aufgrund der Fallzahlensteigerung nur mit einem ausreichenden Personalbestand in einer angemessenen Taktung umgesetzt werden.

 

Herr Schnabel möchte wissen, ob es eine standardisierte Prozedur im Rahmen der Kommunikation zwischen dem Jugendamt und den Schulen gebe. Herr Dr. Hoffmann antwortet dahingehend, dass es eine Arbeitsgemeinschaft „Schule – Jugendhilfe“ der Schulräte und dem Jugendamt gebe, in der es einen Kontrakt über die Kontaktpflege gebe. Weiterhin stehe das Jugendamt in Kontakt mit über 60 schulsozialpädagogischen Kräften sowie den Klassenlehrern.

 

Herr Schroeder fragt nach, mit wie vielen freien Trägern das Jugendamt des Kreises Segeberg zusammenarbeite, sowie nach dem Verhältnis zwischen dem Jugendamt und dem freien Träger. Herr Dr. Hoffmann erklärt, dass das Verhältnis zu dem freien Träger sehr gut sei und auch in Zukunft eine Zusammenarbeit vorgesehen sei. Die Liste der freien Träger sei momentan zu lang. Sie solle jedoch im Rahmen der Sozialraumorientierung kleiner gehalten werden. Herr Busch ergänzt dazu, dass er Herrn Kerder gebeten habe eine aktuelle Liste der freien Träger zusammenzustellen.

 

Frau Schulz erkundigt sich, ob die Familie bei den Besuchen jeweils angetroffen wurde und ob diese Termine jeweils angekündigt waren. Herr Dr. Hoffmann erwidert, dass es in dem langen Betreuungszeitraum verabredete Zeiten im Rahmen einer Vertrauensbasis gegeben habe. Falls die Familie zum verabredeten Zeitpunkt nicht angetroffen wurde, sei ein unangekündigter Besuch am nächsten Tag erfolgt, bei dem die Kinder angetroffen worden seien.

 

Trotz mehrfacher Nachfrage des Vorsitzenden wurde kein weiterer Informationsbedarf zu diesem Top angemeldet.

 

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